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LG Hamburg rügt „verbreitetes Missverständnis“ der Staatsanwaltschaft bei Sichtungsverfahren (§ 110 StPO)

Rechtswidrigkeit der Durchsuchung sowie des Sichtungsverfahrens gem. § 110 StPO

In einem umfangreichen und komplexen Ermittlungsverfahren gegen einen Mandanten aus dem Gesundheitswesen hat das Landgericht Hamburg die Grenzen des Sichtungsverfahrens nach § 110 StPO klargestellt und damit die prozessualen Rechte von Betroffenen gestärkt (Beschluss vom 5.6.2025 – Az.: 616 Qs 14/25)

Der Sachverhalt:

Bei einer Durchsuchung im Jahr 2019 hatten die Ermittlungsbehörden zahlreiche Unterlagen gem. § 110 StPO vorläufig sichergestellt. Diese Norm erlaubt eine Sichtung von Unterlagen zur Ermittlung der Beweisrelevanz, nicht jedoch eine vertiefte Auswertung ohne richterliche Anordnung. Je nach Ergebnis der Sichtung sind entweder eine Beschlagnahmeanordung zu beantragen oder die Gegenstände sind zurückzugeben. Die mitgenommenen Unterlagen wurden jedoch vom LKA Hamburg über 4 ½ Jahre lang (!) inhaltlich umfangreich ausgewertet. Ein Antrag auf förmliche Beschlagnahme erfolgte erst im Jahr 2024 anlässlich der Rüge dieses Rechtsverstoßes.

Die wesentlichen Punkte der Entscheidung:

  • Eine inhaltliche Auswertung im Rahmen der Sichtung ist unzulässig.
  • Die Sichtungsdauer von über 4 ½ Jahren ist selbst bei komplexen und umfangreichen Verfahren unverhältnismäßig.
  • Die Sichtung dauert an, bis eine Rückgabe oder eine förmliche Beschlagnahme erfolgt. Die bloße Mitteilung an den Betroffenen und/oder dessen Rechtsbeistand, dass die Sichtung abgeschlossen sei, kann eine förmliche Entscheidung nicht ersetzen.
  • Das Landgericht nahm trotz dieser vielfältigen Rechtsverstöße kein vorsätzliches bzw. willkürliches Verhalten der Staatsanwaltschaft an.

Fazit:

Die Entscheidung bestätigt, was in Rechtsprechung und Literatur bereits anerkannt ist – und doch in der Praxis immer wieder aus dem Ruder läuft.

Kritikwürdig ist, dass das Landgericht (wohl zur Vermeidung von Beweisverwertungsverboten) der Staatsanwaltschaft kein vorsätzliches bzw. willkürliches Verhalten attestierte, sondern beschwichtigend auf ein „verbreitetes Fehlverständnis“ innerhalb der Ermittlungsbehörden verwies – als wenn dies die Sache besser machte. Tatsächlich gilt auch für Staatsanwaltschaften der alte Grundsatz „Iura novit curia“ („Das Gericht kennt das Recht“) .

Die klare Entscheidung dürfte aber zur weiteren Bewusstseinsbildung beitragen. Sollte im vorliegenden Verfahren an der verbreiteten, rechtswidrigen Praxis dennoch festgehalten werden, liegt jedenfalls in Zukunft eine bewusste (und damit willkürliche) Missachtung des Richtervorbehalts mit der möglichen Folge eines Beweisverwertungsverbots nahe. Für die Verteidigung bleibt es daher unerlässlich, die Einhaltung verfahrensrechtlicher Vorgaben stets im Blick zu behalten und Verfahrensfehler konsequent zu rügen.